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Lieblingsstücke – Lieblingsstellen

von Markus Hechtle

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Was ist ein Lieblingsstück?

Das Liebste von Etwas. Man hat dasjenige von Etwas ausgewählt, das einem am liebsten ist oder zu sein scheint. Das Etwas muss also mehr sein, als das ausgewählte Stück. Ein Lieblingsstück deutet so auf beides hin: Einerseits auf seine Abgrenzung gegenüber seiner Umgebung und die Konzentration auf sich selbst, andererseits aber auch auf den Kontext, dem es entstammt, dem das Stück entnommen ist.

          Von was aber ist dieses Stück das Liebste? Was ist das Ganze?

Darüber gibt der Begriff keine Auskunft, denkbar ist vieles: Das Lieblingsstück einer Sammlung etwa (aus einem Lieder- oder Variationenzyklus) oder einer Gattung, das Lieblingsstück aus einem Werk eines Komponisten oder einer ganzen Epoche. Oder einfach nur das Lieblingsstück eines Konzertabends – ”Was war Dein Lieblingsstück?“, fragen wir uns im Anschluss eines Konzerts in der Kneipe sitzend und ein Bier trinkend.

          Gibt es einen Unterschied, ob wir als Hörer von Lieblingsstücken sprechen, oder als Komponist, der über seine eigenen Arbeiten spricht? Vielleicht macht es auch einen Unterschied, wer sich von beiden wann und wie äußert. Stellen wir uns vor, Komponist K begegnet einem seiner Hörer H, der ihm begeistert zuruft: ”Mein absolutes Lieblingsstück Ihrer Musik ist X: großartig!“ Worauf K errötet. Warum?

Möglicherweise hält K X für eines seiner schwächeren Stücke im Gegensatz zu Y, das er für ein Meisterwerk hält. Noch schlimmer, wenn Y von Kritik und Publikum geschmäht und ignoriert wird, während X anerkannt und erfolgreich ist, ja, vielleicht sogar für den Ruhm von K verantwortlich. Sie spüren: Hinter dieser fiktiven Geschichte verbergen sich in Wahrheit unzählige Komponistenleben, um nicht zu sagen -schicksale.

          Die Ursache für die Divergenz in der Beurteilung von H und K könnte auch darin liegen, dasss Komponisten bei der Wahl ihrer Lieblingsstücke womöglich ganz anderen Motiven folgen. Darf ein Komponist überhaupt ein Lieblingsstück unter seinen eigenen Stücken haben? Und falls ja, darf er es zugeben? Oder sollte er es besser für sich behalten? So wie Eltern in der Regel nicht oder nur im intimsten, vertrauenswürdigsten Rahmen zugeben würden, welches ihrer Kinder mehr geliebt wird oder welches ihnen gelungener erscheint?

          Ich hatte eingangs festgestellt, dass ein Lieblingsstück in jedem Fall ein Ausschnitt aus etwas Größerem ist, und über seine charakteristische Kontextlosigkeit bei gleichzeitiger und zwangsläufig höchster Kontextabhängigkeit nachgedacht. Dabei fällt auch auf, dass es keinen Hinweis gibt auf die Größenordnung und das Größenverhältnis vom Größeren zu dem daraus entstammenden oder darin beinhalteten Kleineren. Kontext und Ausschnitt, Teil und Ganzes sind in ihren Proportionen undefiniert. Der Ausschnitt von Etwas könnte also sehr klein, aber auch sehr groß sein, solange das Etwas größer bleibt.

Wäre der Ausschnitt sehr groß, könnte z.B. von einer Lieblingsepoche die Rede sein, wäre der Ausschnitt sehr klein, könnte nur von einer Stelle innerhalb eines Stücks die Rede sein, also von einer Lieblingsstelle oder einer Schönen Stelle.

 

Auch Lieblingsstellen scheinen sich im ersten Moment vor allem durch ihre Abgrenzung zu dem sie Umgebenden, also durch ihre Kontextlosigkeit, zu charakterisieren. ”Das ist meine Lieblingsstelle, hör mal!“, und wir hören nur diese eine Stelle, manchmal wieder und wieder. Im zweiten Moment aber verweist diese Abgrenzung auf einen größeren Zusammenhang, dem diese Lieblingsstelle entrissen sein muss. Wir wissen, es muss da etwas geben, das die Stelle eigentlich umschließt, ein davor und danach, vorausgesetzt, es handelt sich nicht um einen Anfang oder einen Schluss.

 

Beim Begriff der Stelle denke ich, offen gesagt, allerdings zuerst an Ausschnitte ganz anderer Provenienz. Dies zu verstehen ist tatsächlich wohl eine Alters- und Generationenfrage. Ich beziehe mich auf den Anfang der Achtzigerjahre. Damals, so müssen die Jüngeren wissen, gab es noch kein Internet und damit auch noch keine frei und privat zugängliche Pornographie. Ein Um- und Zustand, der jungen Menschen von heute schlicht unvorstellbar ist. Wer sich damals für Pornos interessierte, musste in entsprechende Geschäfte oder Kinos gehen, was aber erst ab 18 Jahren erlaubt war, außerdem wäre man das Risiko eingegangen, gesehen zu werden. 

          Anfang der Achtzigerjahre war ich 13 oder 14 Jahre alt und der Begriff der Stelle bezog sich auf Passagen in Romanen, Erzählungen oder Kurzgeschichten, die in irgendeiner Hinsicht sexuellen Inhalts waren. Die literarische Bedeutung der jeweiligen Autoren lieferte den Vorwand, sich mit den Werken zu beschäftigen. In Wahrheit, jedenfalls war das bei mir so, ging es ausschließlich um den pornographischen Wert der einzelnen Stellen, die man nicht durch Lesen, sondern durch Blättern ausfindig machte. Sozusagen durch Filterung nach Schlüsselbegriffen. 

          Da jüngere Anwesende nicht wissen können, wovon ich spreche, möchte ich ein kleines Beispiel geben. Und obgleich Pornographie heute durch das Internet allseits frei verfügbar ist, scheint es gleichzeitig nicht mehr möglich zu sein, die folgende Stelle aus Charles Bukowskis Hundekuchen in der Suppe vorzulesen. Ich habe mich daher dem Zeitgeist gebeugt und die Stelle entsprechend den Erfordernissen der Gegenwart präpariert:

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Der Ausflug in die Pornographie mag ihre Wesensverwandtschaft zur Schönen Stelle oder zur Lieblingsstelle intuitiv verstehen lassen: Die Konzentration auf das Detail lässt das es Umgebende ausblenden, den Kontext verschwinden. Zu spüren ist auch die Verwandschaft der Pornographie zu einem Musik- und Kunstbegriff, der sich in Hochglanzmagazinen und Barockschlösschenatmosphären Bahn bricht und der beflügelt durch die Konzentration auf das vermeintlich Beste der europäischen Musikgeschichte nicht müde wird, sein pervertiertes Verständnis von Schön- und Reinheit auf Kosten der lebenden Künstler zum Besten zu geben, die, wie alle Künstler vor Ihnen auch, weit entfernt davon und knöcheltief im Dreck stehend um ihre Kunst ringen müssen. Komponieren ist kein sauberes Geschäft, wie viele denken. Wer komponiert, macht sich die Finger schmutzig, mindestens.

 

Also zurück zur Musik.

Theodor W. Adorno hat in den Fünfziger- und Sechzigerjahren eine enorme Anzahl von Radiobeiträgen über Musik und Philosophie verfasst, ich glaube, insgesamt über 300. Ein Radiobeitrag für den Hessischen Rundfunk aus dem Jahr 1965, der den schönen Titel Schöne Stellen trägt, beginnt wie folgt:

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Adorno prägt dafür folgenden Begriff:​​​

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Und er unterscheidet das strukturelle Hören vom sogenannten atomistischen Hören:

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Adorno fährt fort:

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Vorkünstlerisch und atomistisch (was für eine Worterfindung Adornos!) wäre es also, sich eine Stelle herauszupicken, sie zu genießen, wie etwa jene Schöne Stelle, die ich zur Zensur der Bukowski-Stelle benutzt habe:

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Aber!

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Das Ganze ist ein Werdendes, kein abstrakt Vorgedachtes!

Und: 

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So lassen Sie mich von der Schönen Stelle aus den Kontext wie einen Vorhang aufziehen, nach beiden Seiten, nach links in die Vergangenheit der Schönen Stelle, also zu dem hin, was ihr vorausging, wie auch nach rechts, zur Zukunft der Schönen Stelle, also zu dem hin, was ihr folgt, was auf sie folgt, was aus ihr folgt.

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Adorno fährt fort, das Ganze zu charakterisieren:

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Es artikuliert sich durch Vor- und Rückbeziehung, Erwartung und Erinnerung, Kontrast und Nähe.

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Lassen Sie mich in diesem Sinne den Vorhang noch weiter aufziehen:

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Noch einmal zurück zu Adorno. 

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Nachdem er also sehr plausibel erklärt hat, warum das strukturelle Hören dem atomistischen vorzuziehen sei und damit natürlich eine fast moralische Verpflichtung zur Wahrnehmung des Ganzen und eine Abwertung, ja fast ein Genussverbot des Einzelmoments einhergeht, kommt er aber dennoch zum Schluss, dass der Einzelmoment, die schöne Stelle, doch eine wesentliche Bedeutung zukommt.

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Aus Sicht des Komponisten ist die Schöne Stelle im eigenen Stück im Übrigen etwas sehr Besonderes. So wie der Hörer, der nicht gleichzeitig auch der Autor ist, freut sich der Komponist in eigentümlicher Art beim Hören der eigenen Musik, insbesondere bei Uraufführungen, auf seine schönen Stellen. Diesen Stellen begegnet der Komponist mit einer seltsamen Intimität, mit fast liebevoller Zuneigung, manchmal auch mit einer darin ge- und verborgenen Befremdung und Verwunderung darüber, dass diese Stellen tatsächlich seiner Phantasie entsprungen sein sollen. 

          Ich habe mich oft gefragt, ob es eigentlich möglich sei, eine Musik zu komponieren, die nur aus solchen Schönen Stellen besteht, so dass es keine Hierarchie der Vorfreude auf einzelne Stellen mehr gäbe. Intuitiv würde man antworten, dies sei nicht möglich, aber eine zu schnelle Antwort würde mich nach wie vor misstrauisch machen.

 

So möchte ich nun den Vorhang ganz aufziehen, so dass aus der Schönen Stelle schließlich ein Ganzes wird:

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Allerdings handelt es sich bei diesem Stück auch nur um einen Teil eines Stücks, denn es ist der dritte Teil meines Stücks Fresko. Eine Zuflucht. für Orchester aus dem Jahr 2015, gespielt durch das Bundesjugendorchester unter der Leitung von Hermann Bäumer. 

Und auch dieses Stück ist Teil eines größeren Ganzen, es ist wiederum das dritte Stück einer Trilogie, meiner Fresko-Trilogie. Das erste Stück dieser Trilogie ist Fresko. Eine Sehnsucht., das zweite Fresko. Eine Hinsicht. und das dritte und letzte eben Fresko. Eine Zuflucht..

Aber auch damit ist es nicht getan, so wie ich den Vorhang in die Vergangenheit und in die Zukunft der Schönen Stelle aufgezogen habe, so hat auch der dritte Teil von Fresko. Eine Zuflucht. eine Zukunft. Er ist nämlich in die Arbeit an meinem jüngsten Orchesterstück Lichtung eingeflossen, das im kommenden Januar bei der musica viva in München durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Ilan Volkov uraufgeführt wird.

 

Das Ganze ist in der Musik immer nur sukzessive zu erfahren. Auch meine Idee, vor dem dritten Teil von Fresko. Eine Zuflucht. gleichsam den Vorhang aufzuziehen, ist natürlich nur ein Trick, eine Illusion, denn die zeitliche Sukzessivität des Hörens kann nicht umgangen werden. Das Ganze, von dem Adorno sprach, setzt sich im Fortschreiten der Zeit zusammen, wir erleben nach und nach das Ganze, jedoch nicht allein durch die Addition der nach und nach eintreffenden Information, sondern indem wir nach und nach die Teile aufeinander beziehen, dadurch auch bereits Gehörtes plötzlich in anderem Licht erblicken und neu Hinzugekommenes durch unsere Erwartung und bereits gewonnene Erfahrung bewerten und färben. Nach und nach entsteht das Ganze, nach und nach erhören wir uns Zusammenhang. 

Umso mehr scheint es so zu sein, wenn Sprache und Text hinzutreten und musikalischer Komposition plötzlich Bedeutung verleihen.

 

Hören wir zum Ende einige Schöne Stellen aus meinem Stück Still für Sprecher und vier Männerstimmen mit Akkordeon, sukzessive erschlossen, erhört, so, wie auch das Gedicht Unendlichkeit17 von Giacomo Leopardi immer wieder anders musikalisch kondensiert:

 

Stets war lieb 

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Stets war lieb mir dieser einsame Hügel

und diese Hecke,

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Stets war lieb mir dieser einsame Hügel

und diese Hecke, die zum größeren Teile

dem Blick den fernsten Horizont entzieht.

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Stets war lieb mir dieser einsame Hügel

und diese Hecke, die zum größeren Teile

dem Blick den fernsten Horizont entzieht.

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Doch wenn ich sitze und schaue: 

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Stets war lieb mir dieser einsame Hügel

und diese Hecke, die zum größeren Teile

dem Blick den fernsten Horizont entzieht.

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Doch wenn ich sitze und schaue: grenzenlose

Räume jenseits von ihr und Menschenmaß

übersteigendes Schweigen und tiefste Ruhe

stell ich im Stillen mir vor,

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Stets war lieb mir dieser einsame Hügel

und diese Hecke, die zum größeren Teile

dem Blick den fernsten Horizont entzieht.

Doch wenn ich sitze und schaue: grenzenlose

Räume jenseits von ihr und Menschenmaß

übersteigendes Schweigen und tiefste Ruhe

stell ich im Stillen mir vor, bei der nur kurz

das Herz verweilt ohne Angst. Und wie ich den Wind

rauschen höre in diesen Büschen,

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Stets war lieb mir dieser einsame Hügel

und diese Hecke, die zum größeren Teile

dem Blick den fernsten Horizont entzieht.

Doch wenn ich sitze und schaue: grenzenlose

Räume jenseits von ihr und Menschenmaß

übersteigendes Schweigen und tiefste Ruhe

stell ich im Stillen mir vor, bei der nur kurz

das Herz verweilt ohne Angst. Und wie ich den Wind

rauschen höre in diesen Büschen, vergleich ich 

jene unendliche Stille mit dieser Stimme,

und in den Sinn kommen mir die Ewigkeit

und die vergangenen Zeiten und die lebendige

Gegenwart und ihr Klang.

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Stets war lieb mir dieser einsame Hügel

und diese Hecke, die zum größeren Teile

dem Blick den fernsten Horizont entzieht.

Doch wenn ich sitze und schaue: grenzenlose

Räume jenseits von ihr und Menschenmaß

übersteigendes Schweigen und tiefste Ruhe

stell ich im Stillen mir vor, bei der nur kurz

das Herz verweilt ohne Angst. Und wie ich den Wind

rauschen höre in diesen Büschen, vergleich ich 

jene unendliche Stille mit dieser Stimme,

und in den Sinn kommen mir die Ewigkeit

und die vergangenen Zeiten und die lebendige

Gegenwart und ihr Klang. Und so, in dieser

Unermeßlichkeit, ertrinkt mein Denken,

und süß ist mir, Schiffbruch zu leiden in diesem Meere.

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und süß ist mir, Schiffbruch zu leiden in diesem Meere.

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Ich blättere in einem meiner früheren Vorträge und finde:

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Ganz still ist es jetzt wieder, keine Uhr tickt

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und auch der Nachbar verhält sich ruhig. 

 

Ich warte auf den besseren Gedanken.

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Er kommt nicht. 

​​

1 Markus Hechtle, Wortlose Rückkehr - Szene 1, Ensemble Modern, Leitung: Brad Lubman, hr 2013

2 Charles Bukowski, Hundekuchen in der Suppe, in: Kaputt in Hollywood, Frankfurt am Main 2013, S. 106

3 Theodor W. Adorno, Schöne Stellen, Radiovortrag, Hessischer Rundfunk 1965

4 Ebd.

5 Ebd.

6 Ebd.

7 Markus Hechtle, Fresko. Eine Zuflucht., Bundesjugendorchester, Leitung: Hermann Bäumer, BR 2015

8 Theodor W. Adorno, Schöne Stellen, Radiovortrag, Hessischer Rundfunk 1965

9 Ebd.

10 Markus Hechtle, Fresko. Eine Zuflucht., Bundesjugendorchester, Leitung: Hermann Bäumer, BR 2015

11 Theodor W. Adorno, Schöne Stellen, Radiovortrag, Hessischer Rundfunk 1965

12 Ebd.

13 Markus Hechtle, Fresko. Eine Zuflucht., Bundesjugendorchester, Leitung: Hermann Bäumer, BR 2015

14 Theodor W. Adorno, Schöne Stellen, Radiovortrag, hr 1965

15 Ebd.

16 Markus Hechtle, Fresko. Eine Zuflucht., Bundesjugendorchester, Leitung: Hermann Bäumer, BR 2015

17 Giacomo Leopardi, Unendlichkeit, aus: Canti e Frammenti – Gesänge und Fragmente, Stuttgart 1990, S. 91–93

18–31 Markus Hechtle, Still, André Wilms, Teodoro Anzellotti und Neue Vocalsolisten Stuttgart, WDR 2003

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